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Warum Versicherer zu echten Kundenverstehern werden sollten
09.03.2021
Zum AMC-Auftaktgespräch 2021 kamen Vorstände und Entscheidungsträger aus Assekuranz und Wissenschaft zusammen, um eine Einordnung und Positionierung von Zukunftsthemen für die Branche vorzunehmen. Prof. Dr. Simone Roth von der Hochschule Ruhr West, nahm sich des Themas „Inszenierung der Marke im digitalen Zeitalter“ an. Einige wichtige Antworten haben wir im Nachgang über ein Interview einfangen können.
AMC: Frau Professorin Roth, nicht zuletzt durch Ihre Tätigkeit als Mitglied der Jury des German Brand Awards haben Sie einen umfassenden Einblick in die Markenarbeit verschiedenster Branchen. Warum ist es so schwierig für Kunden und für Mitarbeiter ein einheitliches Bild für eine Versicherungsmarke zu erzeugen?
Simone Roth:
Das Bild einer Marke in den Köpfen der Kunden wird durch unterschiedliche Kontaktpunkte geprägt, sei es durch ein Gespräch mit einem Mitarbeiter, durch Kommentare aus dem Freundeskreis, durch einen Bericht, den der Kunde liest oder einen Post in Social Media. Es gilt, diese Kontaktpunkte entlang der Customer Journey zu kennen und – wo immer möglich – als Unternehmen selbst im Sinne der Markenidentität zu gestalten. Denn aus all diesen Kontaktpunkten ergibt sich iterativ und dynamisch die Customer Experience.
Auch eine vergangene Erfahrung mit einer Versicherung, beispielsweise eine Schadenregulierung, bestimmt die Customer Experience ebenso, wie Erfahrungen in der Suche nach geeigneten Versicherungsprodukten. Die Customer Experience wird also gleichsam bestimmt durch Erfahrungen in der Kaufvorbereitung wie im Vertragsabschluss-Prozess.
wenn ein Kunde online nach einem Versicherungsprodukt sucht oder eines abschließt.
Die Maßgabe sollte sein, in digitalen wie persönlichen Kontakten ein wirkliches Erlebnis zu gestalten.“
AMC: Haben Sie da vielleicht mal ein paar persönliche Erlebnisse für uns?
Simone Roth:
Ich habe kürzlich online nach einer „Versicherung für Dienstschlüssel“ gesucht. Da gibt es noch einiges an Potential zu heben. Durch die beschleunigte Digitalisierung lohnt vor allen Dingen ein Blick auf die Unterscheidung in digitale und in physische Kontaktpunkte. Wann also komme ich mit einer Versicherung persönlich in Kontakt und wann und in welcher Form komme ich digital mit einer Marke in Kontakt? Je zerfaserter das Bild und je weniger ich noch den persönlichen Kontakt erziele, umso stärker die Fragmentierung.
Lassen Sie mich das an unserer aktuellen Lebensrealität verdeutlichen. Nachdem wir seit März letzten Jahres in einer Fülle an Videokonferenzen in der digitalen Realität feststecken, wünschen wir uns wieder den „echten“ Kontakt. Also eine Erfahrung mit allen Sinnen. Aktuell liegt es nahe, hybride Erlebnisse – also eine Verknüpfung der digitalen Welt und der realen Welt – zu gestalten.
AMC: Sie sprechen von hybriden Erlebnissen – aber virtuell fehlt uns dann doch was, oder? Haben Sie ein Beispiel für uns, dass es anders sein könnte?
Simone Roth:
Ja, sogar ein lebensechtes Beispiel: Als letztes Jahr zur Vorbereitung auf eine Weihnachtsfeier ein Paket mit einer Glühweingewürzmischung bei mir zu Hause eintrudelte, konnten wir uns bei der feierlichen Videokonferenz mit Glühwein digital zuprosten. Das verbindet und vertieft das Erlebnis. Also lässt sich sagen, auch virtuell lassen sich schöne Erlebnisse kreieren, die durchaus verbindend sein können.
Die Frage für Versicherer kann also in der internen Markenführung nicht nur lauten, wie kann man ein hybrides Erlebnis zu einem Vertragsabschluss inszenieren? Es lassen sich viele neue Möglichkeiten zum Kundenengagement erschließen.
AMC: Was ist aus Ihrer Sicht für eine gelingende digitale Markenreise zu tun? Und welche drei Impulse möchten Sie den Versicherungen mit auf den Weg geben?
Simone Roth:
Eine Marke in der digitalen Welt zu inszenieren ist schwieriger als in der realen Welt. Im wissenschaftlichen Diskurs folgt man beispielsweise gern der Denkrichtung des dänischen Marketingprofessors Svend Hollensen. Demnach wird Customer Experience durch den Grad der Interaktion definiert, also: Wie oft und intensiv interagiert ein Kunde mit einer Marke? Wie tief zieht das Erlebnis den Kunden in den Bann? Letzteres zielt auf den Grad der Teilnahme eines Kunden ab.
Dem folgend habe ich drei Impulse für Versicherer, die ich als das KIT der digitalen Markeninszenierung bezeichne. Diese drei Prinzipien gilt es für jede Versicherungsmarke zu definieren:
1. die konzeptionellen Prinzipien
2. die inhaltlichen Prinzipien
3. die technologischen Prinzipien
KIT = Konzeptprinzipien, Inhaltsprinzipien & Technologie
Bekanntermaßen sollte jede digitale Markenpräsenz konzeptionellen Prinzipien folgen. Dann gilt es zu fragen: Passt der konzeptionelle Ansatz zur Zielgruppe, zu den Marketingzielen (z.B. Interaktionsrate) und zur Marke selbst? Ist die Marke funktional oder emotional ausgerichtet, die Identität auf Storytelling ausgelegt? Diese und mehr Fragen stehen im Zentrum der Konzeptprinzipien.
Daneben gilt es, die digitalen Inhalte im Auge zu behalten, also die Inhaltsprinzipien. Hier gilt es zu fragen: Wie authentisch und relevant sind die Inhalte? Gelingt es mit den digitalen Inhalten eine Tiefe der Sinneseindrücke zu erreichen? Nutzt die digitale Marke auch die auditive Sinneswahrnehmung oder bleibt es rein auf der visuellen Ebene?
Dazu kommt dann das letzte Prinzip, nämlich die Technologie. Aus vielen wissenschaftlichen Untersuchungen ist beispielsweise bekannt, dass die notwendige Einfachheit der Nutzung der Technologie die Akzeptanz und Nutzungsbereitschaft positiv beeinflusst. Je komplizierter die digitalen Kontaktpunkte, desto eher gibt ein Kunde entnervt auf.
AMC: Lassen Sie uns kurz über den Tellerrand blicken: Welche Beispiele können den Versicherern aktuell als Inspiration dienen?
Simone Roth:
Das kommt darauf an, welchen Aspekt man betrachten möchte. Jede Branche hat ihre Spezifika, doch gerade der Blick in ganz andere Branchen kann helfen, Analogien zu ziehen und in die eigene Branche zu übertragen. Da sich aktuell viel um das Thema Digitalisierung dreht, lassen Sie mich drei Beispiele aus diesem Umfeld nennen:
1. Auf dem AMC Jahresmeeting 2021 hielt ich einen Impulsvortrag. Dort wurde Wonder.Me (www.wonder.me) zum informellen Austausch in der Mittagspause genutzt. Was das deutsche Start-Up von anderen Video-Konferenzsystemen unterscheidet, ist die Nutzung der räumlichen Dimension. Man bewegt in dem System einen eigenen Avatar im Raum auf einen anderen zu und erst in greifbarer Nähe öffnet sich eine Videokonferenz. Damit bildet das System nach, dass Menschen in der Kommunikation aufeinander zugehen. Da sind wir wieder bei der Tiefe der Sinneseindrücke. Direkt übertragen bedeutet es, dass ein Kontakt mit einer Versicherung auch im digitalen Umfeld mit einer räumlichen Dimension gestaltet werden kann. Eine neue Dimension der Hotline, Rückfragen beim Versicherer und vieles mehr.
2. airbnb ist ein gutes Best Practice Beispiel für eine digitale Markeninszenierung. Sie finden sehr schnell auf der Webseite einen rationalen, funktionalen Markennutzen, wie z.B. eine Absicherung für Eigentümer im Falle von Vandalismus oder Sicherheit für Kunden durch einen 24/7 Kundenservice. Doch darüber hinaus geht es um die Inszenierung eines Gefühls: ‚in der Fremde dazuzugehören‘, und dass ein ,Entdecken in Zeiten sozialer Isolation möglich ist‘. Ein gutes Beispiel ist airbnb auch dafür, wie ein psychosozialer Nutzen digital zum Leben erweckt wird. Dabei gelingt der Marke aktuell sogar der Brückenschlag in hybride Erlebnisse, denn man kann bei airbnb Kurse belegen zur ‚Schnitzeljagd für Wohnzimmerhelden‘ und vieles mehr. Das KIT der Markeninszenierung wird dann komplettiert durch technologische Aspekte, wie der Einfachheit der Website-Nutzung und der Buchung an sich.
3. Netflix und Disney+ sind zwei sehr differenzierte Marken im direkten digitalen Wettbewerb. Netflix bietet den unbegrenzten Zugang zu einer Fülle an Filmen, egal von welchem Endgerät, sei es Smart TV oder Playstation. Der Name ‚Net‘ für Internet und ‚Flicks‘ als umgangssprachlich englischer Begriff für Filme wird hier visuell sehr gut umgesetzt. Man fliegt räumlich quasi in das Filmuniversum.
Disney+ zeigt in seinem digitalen Auftritt die besten Charaktere, die es an einem Ort zu entdecken gibt. Die Unterscheidung zum Markenauftritt von Netflix zeigt sich dann deutlich z.B. durch virtuelle Filmabende. Diese sogenannte ‚Groupwatch‘ Funktion ist ein Streaming Angebot für bis zu sieben enge Freunde. Hier liegt der Sinn im gemeinsamen Erleben eines Filmes. So schließt sich der Kreis zu hybriden Markenerlebnissen.
AMC: Welches idealtypische Markenbild eines Versicherers haben Sie vor Augen, wenn Sie fünf Jahre in die Zukunft blicken?
Simone Roth:
Idealtypisch ist eine Frage der Perspektive und so entscheiden die Bedürfnisse der relevanten Zielgruppe über das Ideal einer Marke. So verschieden die Segmentierung der Zielgruppen vorgenommen werden kann, sei es verhaltensbezogen, sei es wertebezogen oder nach vielen anderen Kriterien, so verschieden granular sieht das Ideal der Versicherungsmarke aus Sicht der jeweiligen Zielgruppe aus.
Ein Versicherer ist also mehr denn je als Kundenversteher gefordert. Das klingt erstmal einfach, doch Daten zu Mustern zu verknüpfen, lässt sich nicht outsourcen - auch nicht an Versicherungsmakler. Die Granularität der Kundenwünsche zu kennen und ihre Veränderung zu beobachten, diese entsprechend im Produktportfolio unter dem Markendach zu reflektieren, das wird einen idealtypischen Versicherer in Zukunft auszeichnen.
Nur dann können Lebensrealitäten für gezielte Angebote genutzt werden.“
AMC: Wie werden Versicherer denn zu echten Kundenverstehern?
Simone Roth:
Nur wer die Lebensrealitäten seiner Kunden wirklich kennt, kann sie für gezielte Angebote nutzen. Dazu zwei Ansatzpunkte:
1) Der Loyality Loop: Dieser Begriff rückt aktuell in wissenschaftlichen Kontexten häufiger in den Fokus. Hier fragt man sich in der Nachkaufphase welche Auslöser dazu führen, dass Kunden erneut auf Angebote einer Versicherung zurückgreifen und im Loyality Loop bleiben. Und welche Auslöser dazu führen, dass Kunden im Suchprozess nochmal ganz von vorne anfangen. Solche Auslöser zu kennen und den Loyality Loop aktiv zu gestalten, setzt ein vertieftes Kundenverständnis auch auf Basis von Daten voraus.
2) Bedürfnisse: Nutzerzentrierte EcoSysteme basieren auf der Kenntnis von Bedürfnissen. Nur dann können Marken für relevante Themen einstehen und ein Markendach bilden, das beispielsweise breit genug ist für das Entstehen eines EcoSystems. Das geht aber nicht, wenn man nicht einmal relevante Muster in den Kundendaten identifizieren kann oder aus guten Datenschutzgründen zu Recht nicht verknüpfen darf. Kunden werden sich mehr und mehr des Werts ihrer Daten bewusst. Jetzt ist die spannende Frage also, wie einem Kunden für die ‚freiwillige Herausgabe‘ seiner Daten eine Gegenleistung geboten werden kann, die er als Gewinn betrachtet und mitmacht.
ist für mich die ideale Versicherungsmarke.“
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Stefan Raake
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Stefan Raake, Diplom-Kaufmann, Jahrgang 1965. Studium an der Universität zu Köln mit den Schwerpunkten Marketing sowie Wirtschafts- und Sozialpsychologie. Seit 1995 im AMC-Netzwerk tätig, seit August 2010 als geschäftsführender Gesellschafter der AMC Finanzmarkt GmbH. Online-Projekte und Beratung für über 30 Versicherer, von 1995 bis 2005 Projektleiter und Chefredakteur von Versicherungen.de.
Fachautor, diverse Veröffentlichungen u .a. "Marketing Online" (Campus Verlag, das erste deutsche Buch zum Thema), "Web 2.0 in der Finanzbranche", "Versicherer im Internet", die Studie "Die Assekuranz im Internet” (Jährliche Auflagen seit 1996). Von 1996 bis 2007 Partner und Gesellschafter der itm IDEAS TO MARKET GmbH sowie viele Jahre Beirat der Digitalen Stadt Düsseldorf e.V., seit 2017 in der Jury des German Brand Award und seit 2020 Beirat im OMGV.
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AMC Finanzmarkt GmbH
Désirée Schubert
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Desirée Schubert, MBA sustainability Management an der Universität Lüneburg & Studium der Germanistik und Erziehungswissenschaften an der Universität zu Köln. Senior Consultant, PR-Managerin und Ansprechpartnerin des AMC zu Nachhaltigkeit (CSR).
Für den AMC u.a. als Studienleiterin ("Die Assekuranz im Internet", "Verständlichkeit in der Assekuranz", "Nachhaltigkeit in der Assekuranz") und als Fachautorin tätig.
Seit 2015 Netwerkpartner mit eigener Company, der Fährmann Unternehmensberatung GmbH
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45407 Mülheim an der Ruhr
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Prof. Dr. Simone Roth ist Markenwissenschaftlerin mit langjähriger Businesserfahrung im internationalen Markenmanagement. Sie promovierte im Bereich Markenkommunikation und arbeitete als Senior Consultant in der renommierten Markenberatung Esch. The Brand Consultants. Im Anschluss trug sie im Management des Unternehmens Henkel Verantwortung für internationale Marken und war dort u.a. als Direktorin des Vorstandsbüros für Beauty Care tätig. Im September 2014 wechselte sie als Professorin an die Brand University in Hamburg und übernahm auch die Studiengangsleitung für den Masterstudiengang International Brand Management. Darüber hinaus war sie für dreieinhalb Jahre die Vizepräsidentin der Hochschule. Seit September 2018 ist sie nun Professorin für Allgemeine BWL und Marketing an der Hochschule Ruhr West in Mühlheim und lehrt dort u.a. Module zum Consumer Behavior Marketing, International Marketing oder Social Media Marketing in Bachelor- und Masterstudiengängen.
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