Nachhaltigkeit: Wie gut performen die Versicherer?

30.04.2022

Versicherer sind wichtige Akteure, wenn es darum geht, die Transformation hin zu einer nachhaltigen Finanzwirtschaft mitzugestalten. Durch ihre Kapitalanlagestrategien aber auch durch ihre Produktgestaltung, Underwriting und Schadensmanagement verfügen Komposit-Versicherer über wirkmächtige Hebel, nachhaltiges Wirtschaften voranzubringen und v.a. zur Bekämpfung des Klimawandels beizutragen.

In seiner Nachhaltigkeitspositionierung von Januar 2021 betont der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV), dass die Branche insgesamt nachhaltiger werden will. Ziele sind klimaneutrale Kapitalanlagen bis 2050 sowie keine gewerblichen und industriellen Risiken mehr zu zeichnen, die den Transformationsprozess zu einer nachhaltigen und klimaneutralen Wirtschaft behindern bzw. ihr im Wege stehen. Und auch manch ein Versicherer wähnt sich bereits dunkelgrün und auf dem rechten Weg. Was sollen Verbraucher glauben – oder anders gefragt: Welche Unterstützung gibt es für Verbraucher*innen? Welches FinTech-Tool hilft Makler*innen bei der Einschätzung der Nachhaltigkeitsleistung von Versicherungen?

NATIVE – das wissenschaftliche Nachhaltigkeits-Indikatoren-System der Versicherungsbranche Der Weg scheint klar, doch wie aktiv setzen die Versicherer ihre Hebel ein? Mit einem unabhängigen Nachhaltigkeits-Indikatoren-System (NATIVE) wurden Leistungskennzahlen erarbeitet, die einen Vergleich der Versicherungsgesellschaften in Bezug auf ihre Nachhaltigkeitsleistungen ermöglichen (www.native-rating.de). Initiatoren waren die Greensurance Stiftung in Kooperation mit der Hochschule für Technik Stuttgart.

Rund 300 Indikatoren wurden definiert, um die Nachhaltigkeitsleistung der Versicherer auf Unternehmens- und Produktebene sowie in den Dimensionen Umwelt, Sozial-Gesellschaftliches, gute Unternehmensführung, Ökonomie, Kapitalanlage sowie Produkt und Schaden zu bewerten. Verbraucher*innen soll es damit einfach gemacht werden, die beste „grüne Versicherung“ für sich herauszufiltern. Der AMC hat mit dem NATIVE-Team gesprochen.

AMC: Warum sollten Versicherer sich für Ihr NATIVE-Projekt interessieren – und was können sie zum Erfolg beitragen?
Anna Schirpke: NATIVE bietet als erstes wissenschaftlich basiertes Online-Tool für Verbraucher*innen und Makler*innen eine Hilfestellung, um die Nachhaltigkeitsleistung von Kompositversicherungen zu überprüfen. NATIVE zeigt Verbraucher*innen und Makler*innen mit einem Blick auf, wie nachhaltig Versicherungen in den Bereichen Klima, Umwelt, Soziales, Governance, Ökonomie sowie Kapitalanlage, Produkt und Schaden performen. Nachhaltige Versicherungen rücken immer mehr in das Bewusstsein von Verbraucher*innen. V.a. die junge Generation (u.a. mit Fridays For Future) setzt vermehrt auf digitale und nachhaltige Produkte. Zeitgleich erhält die Versicherungsbranche immer umfangreichere regulatorische Vorgaben, um Nachhaltigkeit im Unternehmen zu implementieren. NATIVE ist daher eine zusätzliche Motivation, sich stetig von Jahr zu Jahr zu verbessern, nachhaltige Versicherungsprodukte zu entwickeln und die Nachhaltigkeits-Performance zu steigern.

Martina Gruß-Kilian: Die Greensurance Stiftung setzt auf die Unterstützung der Versicherungen bei der nachhaltigen Transformation, in der es vor allem um aktive Wirkung geht. Versicherungen können wichtige Impulse durch NATIVE erhalten und das Rating als externe Motivation nutzen, um das Thema nochmals im Unternehmen zu positionieren. Eine Teilnahme der Versicherungen an der obligatorischen NATIVE-Online-Umfrage hilft daher nicht nur Punkte für das Rating zu sammeln, zeitgleich zeigt es ihnen aber auch Themen auf, die explizit für ein nachhaltiges Versicherungsunternehmen wichtig sind. Dabei sprechen wir nicht nur von Betriebsökologie oder sozialen Themen, sondern legen den Fokus auf Produkt, Schaden, Kapitalanlage und Underwriting. Im Nachgang zur Ergebnispräsentation im Februar haben wir erfreulicherweise viel positives Feedback, auch von im Rating eher unten angesiedelten Versicherungen erhalten. Viele möchten unsere Ergebnisse nutzen, um auch intern das Thema Nachhaltigkeit voranzubringen, sodass Nachhaltigkeitshandlungen höher priorisiert werden und z.B. die interne Weiterbildung vorangetrieben wird.

AMC: Welche Erkenntnisse lassen sich aus Ihrer 28-monatigen Arbeit und dem ersten NATIVE-Rating ziehen? Gab es Überraschungen?
Anna Schirpke: Als wir 2018 mit der Idee zu NATIVE starteten, war die Versicherungsbranche dem Thema „Nachhaltigkeit und Klimawandel“ kaum aufgeschlossen. Erst seit Veröffentlichung des BaFin Merkblatts zu Nachhaltigkeitsrisiken 2019 hat sich die Versicherungsbranche in der Breite verstärkt mit diesen Themen beschäftigt. Andere Wirtschaftsbranchen, wie die Bio-Pioniere bei Lebensmitteln, E-Autos oder Haushaltsgeräten steigern ihre Nachhaltigkeitsleistung seit Jahrzehnten. Einen Marathon läuft man auch nicht aus dem Stegreif. Es besteht also noch viel Aufholbedarf bei den Versicherungen, um „enkeltauglich“ [Synonym für nachhaltig] zu werden. So ist es dann auch nicht verwunderlich, dass nicht einmal die am besten abgeschnittene Versicherung über 50% beim NATIVE-Rating erreicht hat.

Martina Gruß-Kilian: Wir haben die Messlatte bewusst hoch angesetzt, um den Versicherungen gezielt aufzuzeigen in welchen Bereichen Verbesserungspotential besteht. Die Ergebnisse des NATIVE-Ratings 2022 mögen vielleicht auf den ersten Blick überraschen, vor allem, da nicht die großen internationalen Konzerne weit vorne liegen, die große Nachhaltigkeits-Stabstellen haben. Das hat aber zum einen damit zu tun, dass diese zum Teil nicht an der obligatorischen Abfrage teilgenommen haben, und sich dadurch wertvolle Punkte haben entgehen lassen, zum anderen aber auch, dass die Nachhaltigkeitsleistung vor allem im für uns und für die VerbraucherInnen sehr relevanten Produkt- und Schadenbereich ihrer Sachversicherungs-Töchter in Deutschland nicht mithalten können. Mit dem aktuellen Engagement zur Nachhaltigkeit erwarten wir bei der NATIVE-Bewertung 2023 eine deutliche Verbesserung.

AMC: Wie ist es denn aktuell um eine „gelebte Nachhaltigkeit“ bei Versicherungen bestellt? Und woran machen Sie eine fortschrittliche „grüne“ Versicherung fest?
Martina Gruß-Kilian: Das NATIVE-Ergebnis spiegelt den aktuellen Stand der Nachhaltigkeitsperformance innerhalb der Branche durch die große Spreizung in den Ergebnissen der betrachteten Sachversicherungen gut wider. Wir haben die gesamte Brandbreite von Versicherungen: Jene, die sich mit Nachhaltigkeit vielfältig beschäftigt haben und ihre Leistungen in diesen Bereichen transparent kommunizieren, im oberen Bereich. Und jene, die noch ganz am Anfang stehen und bei denen teilweise noch die Basics fehlen (wie bspw. die Benennung einer verantwortlichen Person zur Nachhaltigkeit, die Veröffentlichung eines CSR-Berichts, die Festlegung einer Zielsetzung zur Nachhaltigkeit usw.).

Anna Schirpke: Mit unseren bis zu 315 Einzelindikatoren zeichnen wir ein wissenschaftlich fundiertes Bild über die verschiedenen Nachhaltigkeitsbereiche jeder einzelnen Sachversicherung. In unserer Bewertung haben wir Indikatoren entlang der gesamten Wertschöpfungskette ausgewählt, also neben der klassischen ESG-Betrachtung (ESG = Environment Social Governance) auch einen besonderen Fokus auf die Kategorie „Kapitalanlage“ sowie „Produkt&Schaden“ gelegt.

AMC: Welches Verbesserungspotential hat sich maßgeblich gezeigt? Haben Sie Tipps, worauf Versicherer aktuell ihren Fokus legen sollten?
Martina Gruß-Kilian: Wie bereits erwähnt spielt das Thema Transparenzkultur für unsere Analyse aber eben auch für die Verbraucher*innen eine große Rolle. Aus deren Sichtweise haben wir die Indikatoren auch mitentwickelt. Das heißt, wir können die Versicherungen nur darin bestärken, sich ihrer bereits erfolgten Ansätze im Bereich Nachhaltigkeit bewusst zu werden und diese auch proaktiv zu kommunizieren. Sei es im Rahmen ihres Webauftritts, z.B. als gesonderte Subseiten zum Thema Nachhaltigkeit, als auch in einem Nachhaltigkeitsbericht, in Veröffentlichungen, Social Media etc. Anna Schirpke: Auch wenn die meisten Versicherungen noch einen weiten Weg vor sich haben, sich klare und messbare Ziele zu setzen, und sich intern wie extern daran messen zu lassen, bringt die nachhaltige Transformation voran. Spätestens mit dem BAFIN-Merkblatt, dem EU Green Deal und der EU-Taxonomie Verordnung ist viel Bewegung in den Bereich Sustainable Finance & Insurance gekommen. Nachhaltigkeit in der Kapitalanlage allein reicht längst nicht mehr aus. Zusammen mit den Bereiche Produkt und Schaden liegen hier die Hebel und die große „transformative Wirkung“, die wir bei NATIVE stets im Blick haben.

AMC: Welche nächste Etappe wollen Sie mit NATIVE meistern, und was treibt Sie ganz persönlich dazu an?
Martina Gruß-Kilian: Die erste Runde der Bewertung ist erfolgreich abgeschlossen und für uns zählt nun der Blick nach vorne. Es ist unser klares Ziel das NATIVE-Ranking jährlich zu wiederholen. Denn nur dann werden wir auch die geleisteten Fortschritte der Versicherungen aufzeigen können. Die nächste Erhebung ist in diesem Herbst und die Veröffentlichung im Frühjahr 2023 geplant. Zwischenzeitlich werden wir, z.B. in Form von Blogbeiträgen auf unserer Webseite, Einblicke in unterschiedliche Schwerpunktthemen aus unserem Fragenkatalog veröffentlichen. Wir wollen interessierte Verbraucher*innen noch transparenter und einfacher zu nachhaltigen Versicherungen informieren. Auf der anderen Seite wollen wir mit unserem NATIVE PRO-Portal Makler*innen und Versicherungsberater*innen befähigen, im Kunden-/ Beratungsgespräch mit wenigen Klicks zum Thema nachhaltige Sachversicherungen und Sachversicherungsprodukte beraten zu können. Anna Schirpke: Dass die Versicherungsbranche mit dem Dreiklang aus Kapitalanlage, Produkt & Schaden sowie Underwriting einen großen bisher kaum genutzten Hebel besitzt, um mehr Nachhaltigkeit in unserer Gesellschaft umzusetzen, ist ein großer Anreiz für mich persönlich. Bei zunehmenden Klimafolgen weltweit, beim Rückgang der Arten und auch einer weiteren Spreizung der Gesellschaft sowie zwischen Arm und Reich müssen wir alle Hebel, die wir besitzen, nutzen, damit wir auch unseren Kindern und Enkelkindern noch eine lebenswerte Erde hinterlassen. Versicherungen haben dabei eine ganz besondere Rolle inne. Mit NATIVE motivieren wir Versicherungen diese Hebel zu nutzen und ihren Beitrag zu einer nachhaltigeren Gesellschaft zu leisten. Dieses transformative Potential ist sicherlich eine Motivation beim gesamten NATIVE-Team.

AMC: Ein Schwerpunkt wurde bei der NATIVE Analyse ja auch auf den Bereich „Produkt & Schaden“ gelegt, was war Ihnen dabei besonders wichtig, und was macht denn ein nachhaltiges Produkt aus?
Anna Schirpke: Seit der Gründung der Greensurance Stiftung haben wir die Bedeutung der Bereiche „Produkt & Schaden“ kommuniziert. Nachhaltigkeit ist idealerweise über die Unternehmenswerte in die Strategie des Unternehmens integriert. Auf Produktebene schlägt sich dies im Offering (Produkt/ Dienstleistungen/ Assistance Leistungen), Marketing, Vertrieb, Underwriting und im Schadenmanagement nieder. Ein nachhaltiges Produkt geht unserer Meinung nach – je nach Produktsparte – in seinen Leistungen und seinem Schadenmanagement in Hinblick auf ökologische und soziale Gesichtspunkte über ein konventionelles Produkt hinaus und betrifft insbesondere auch die Produktinnovationen. Dies kann sich einerseits im Versicherungsgegenstand (Versicherung neuer, nachhaltiger Technologien), aber auch in den Leistungen (Anregung zu einem nachhaltigen Verhalten beim Kunden) zeigen. Die Zeichnungsrichtlinien müssen die nachhaltige Ausrichtung des Unternehmens nach außen tragen und für das Underwriting, das heißt die Bewertung und Zeichnung von Risiken, klare Ausschlusskriterien für negative Geschäfte enthalten. Im Gegenzug sollte die Entwicklung der Versicherungsnehmer hin zu Unterstützer*innen einer positiven Transformation durch den Versicherer gefördert werden (Information, aktuarielle Berücksichtigung, Beratung, etc.). Denkbar wären zum Beispiel Öko-Rabatte für CO2-sparsame Wagen. Im Marketing kann dies durch Öko-Add-ons (Pflanzen eines Baumes) unterstützt werden. Wichtig: Solche Ansätze allein reichen nicht(!) aus, um ein Produkt als nachhaltig zu kennzeichnen.

Martina Gruß-Kilian: Durch die Transparenzverordnung wird der Vertrieb immer stärker in die Beratung zu nachhaltigen Produkten eingebunden. Deshalb müssen Anreizsysteme im Vertrieb konsequent auf Nachhaltigkeit ausgerichtet und die Mitarbeiter entsprechend geschult werden. Im Schadenfall ist es – gerade im Bereich der Sachversicherung – für eine Förderung der Nachhaltigkeit wichtig, Schadenersatz nicht nur nach gleicher Art und Güte zu ermöglichen, sondern Anreize für nachhaltige Konsumentscheidungen zu schaffen. Das sind dann Mehrleistungen für nachhaltigen Schadenersatz z.B. durch energieeffizientere Neugeräte oder Baustoffe, Reparatur oder Ersatz durch Second-Hand-Produkte anzuerkennen bzw. zu fördern. Klimafreundlichstellung der Schadenregulierung und Betriebsabläufe gehören ebenso zu einem nachhaltigen Versicherungsprodukt. Man sieht, dass ein nachhaltiges Produkt nicht mit einem einzelnen Baustein gar einen einzelnen Baum umzusetzen ist.

Hier geht’s zum aktuellen NATIVE-Rating (kostenpflichtig) Hier geht’s zum aktuellen : NATIVE-Vergleich(kostenlos)

Erläuterungen zum »NATIVE« Projekt:
Das »NATIVE« Projekt hat das Ziel, Versicherungen auf ihre Nachhaltigkeitsleistungen zu vergleichen und zeigt, wie ausgeprägt die Nachhaltigkeitsleistungen deutscher Sachversicherungen ist. Aktuell lassen sich 19 Versicherer über einen Vergleich gezielt darüber auswählen, wie nachhaltig sie ticken. Frau Anna Schirpke ergänzt über das Native-Ranking: Unser umfangreicher Fragenkatalog ist kaskadieren aufgebaut, das heißt, wir sind von „basic“ Anforderungen (z.B. „Wird auf der Webseite ein Ansprechpartner für Nachhaltigkeit/Postfach kommuniziert?“) zu wesentlich ambitionierteren Anforderungen (z.B. „Werden Ausschlusskriterien (Negativkriterien) bei der Kapitalanlage angewendet?“) zu visionären Anforderungen (z.B. „Unterstützt ihre Versicherung die Erstellung eines Hochwasserpasses?“) übergegangen. Wichtig ist zu erwähnen, dass ein Großteil unseres Fragenkatalogs auf Basis öffentlich verfügbarerer Informationen bewertet wurde. Dadurch hatten wir keinen direkten Einblick in die gelebte Unternehmenskultur, sondern nur in all die Informationen, die den typischen Verbraucher*innen mit umfangreicherer Recherche auf den Versicherungs-Webseiten, in den veröffentlichen Berichten und über Recherche im Internet zur Verfügung stehen.