Regulierung: Aus der Not eine Tugend machen - Versicherer sind wichtige Player einer nachhaltigen Transformation
22.06.2021
Der AMC im Gespräch mit Prof. Dr. Tobias Popovic und Jessica Reichard-Chahine.
Obwohl Versicherer starke Hebel haben, eine notwendige Transformation in Richtung sozial-ökologische Marktwirtschaft voranzutreiben, zählen sie im Bereich Nachhaltigkeit eher zu den Nachzüglern. Gleichzeitig sind sie insbesondere im Sachversicherungsbereich stark vom Klimawandel betroffen. Auch nimmt die Nachhaltigkeitsregulierung der Finanzwirtschaft stetig zu.
Warum es sich lohnt, aus der „Regulierungsnot“ eine Tugend zu machen, haben wir mit Prof. Dr. Tobias Popovic, Professor für Corporate & Sustainable Finance an der Hochschule für Technik (HFT) Stuttgart und Jessica Reichard-Chahine, akademische Mitarbeiterin der HFT, in einem Interview ausgelotet.
AMC: Die Sustainable Finance-Strategie der Bundesregierung und auch der EU-Aktionsplan zur Finanzierung nachhaltigen Wachstums betonen die zentrale Bedeutung nachhaltiger Finanzstrukturen, um die aktuellen Nachhaltigkeitsherausforderungen meistern zu können. Können Sie die Zusammenhänge kurz skizzieren?
Tobias Popovic (TP)
: Vor dem Hintergrund des sich beschleunigenden Klimawandels sowie mit Blick auf das Pariser Klimaabkommen und die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen hat die EU-Kommission im März 2018 den „Aktionsplan – Finanzierung nachhaltigen Wachstums“ auf den Weg gebracht. Der Aktionsplan trägt dem Umstand Rechnung, dass der Finanzwirtschaft eine Schlüsselrolle bei der Transformation hin zu einem nachhaltigeren Wirtschaftssystem zukommen kann. Dabei stehen drei Oberziele im Vordergrund:
Umlenkung von Kapitalströmen hin zu nachhaltigen Investitionen
Einbeziehung von Nachhaltigkeit in das Risikomanagement
Förderung von Transparenz und Langfristigkeit
Um diese Ziele zu erreichen, wurden wiederum zehn unterschiedliche Maßnahmenpakete zusammengestellt, deren Inhalte die verschiedenen Akteure des Finanz- und Wirtschaftssystems unterschiedlich in die Pflicht nehmen. Am Finanzplatz Baden-Württemberg wurde unter Federführung von Stuttgart Financial und EY ein Strategiepapier für eine nachhaltige Transformation des Finanzplatzes entwickelt, woran wir als Hochschule beteiligt waren. Dieses Papier knüpft am EU Aktionsplan und an den Empfehlungen des Sustainable Finance-Beirats der Bundesregierung an und soll nun in die Umsetzung gehen.
AMC: Es wird immer deutlicher und auch belegbarer, dass der Kapitalmarkt ein entscheidender Hebel für die Bekämpfung des Klimawandels und einen umfassenden Umbau unseres Wirtschaftssystems in Richtung sozial-ökologische Marktwirtschaft ist. Welche Rolle können dabei die Versicherer spielen? Und wie schätzen Sie den Status Quo diesbezüglich ein? TP: Während in Deutschland bereits einige nachhaltigkeitsorientierte Banken existieren, gibt es bei Versicherern nur wenige Unternehmen, die nachhaltiges Wirtschaften umfassend im Geschäftsmodell integrieren und nachhaltige Produkte entwickelt haben. Versicherer zählen im Bereich Nachhaltigkeit eher zu den Nachzüglern. Gleichzeitig – insbesondere im Sachversicherungsbereich – sind Versicherungen stark vom Klimawandel betroffen. Bei Banken hat sich in den letzten Jahren einiges getan. Dort gibt es Vorreiter, die sich in der Global Alliance for Banking on Values zusammengeschlossen haben. Eine vergleichbar konsequente Umsetzung von Nachhaltigkeit sehen wir im Versicherungssektor noch nicht.
Versicherer sind aber ein wichtiger Player, sowohl bei der Transformation der sozialen Marktwirtschaft in eine sozial-ökologischen Marktwirtschaft, als auch wenn es darum geht, Kunden in einem nachhaltigen Handeln zu unterstützen und Anreize dafür zu setzen. Ein Hebel kann dabei der Kapitalanlagebereich der Versicherungsbranche sein. Insbesondere im Leben-Bereich steht dieser bereits länger im Fokus. Hier gibt es bislang unterschiedliche Rahmenwerke, wie z.B. die UN PRI und die UN PSI, Guidelines von unterschiedlicher Verbände und Plattformen, wie z.B. FNG, EUROSIF, EFAMA, GSIA, verschiedener NGOs eine zunehmende Anzahl nachhaltigkeitsorientierter Kapitalmarktindizes sowie mit Blick auf die Kundenseite aber auch die neuen MIFID II-Vorgaben die zur Orientierung dienen können. Nicht zuletzt werden die unterschiedlichen Maßnahmenpakete des EU Aktionsplan mit Blick auf die Klassifizierung nachhaltiger Investmemts (v.a. die Taxonomie), Veröffentlichungspflichten, Benchmarks, etc. zunehmend konkreter.
Jessica Reichard-Chahine (JRC): Zudem unterstützen einige Versicherer sowie nun auch der GDV Initiativen wie z.B. die UN Net-Zero Asset Owner Alliance. Im Nicht-Leben-Bereich der Versicherungswirtschaft fehlen bislang solche Nachhaltigkeitsimpulse weitgehend. Während in die Transparenz zu Kapitalanlagen Bewegung gekommen ist, passiert bei den Sachversicherungen auf Produktebene noch wenig.
TP: Hier könnten die Versicherer Anreize setzen, dass sich Kunden nachhaltiger verhalten: Bei Verbrauchern sehen wir eine Attitude-Behavior-Gap. Bei der Wiederbeschaffung eines Fahrzeugs etwa könnten Versicherer die klimafreundlicheren Varianten fördern. Bei einem Totalschaden könnte ein SUV mit hohem CO2-Fußabdruck klimafreundlicher ersetzt werden. Versicherer können so eine aktive Rolle im Bereich Klimaschutz einnehmen und zu einer Transformation beitragen. Die Motive für die Versicherer liegen hier auf der Hand: das Fortschreiten des Klimawandels, regulatorische Anforderungen (v.a. der EU Aktionsplan), wachsendes Nachhaltigkeitsbewusstsein in der Bevölkerung, eine jetzt schon hohe und wachsende Nachfrage der Kunden und schließlich das Erschließen neuer Marktsegmente und – damit verbunden – die Generierung neuer Ertragsquellen.
AMC: Wie werden sich geänderte, regulatorische Rahmenbedingungen auf Strategien und Geschäftsmodelle von Unternehmen auswirken? Im Speziellen auf die der Versicherer? JRC: Wenn es um die zunehmende Nachhaltigkeitsregulierung der Finanzwirtschaft geht, hört man von Versicherern nicht selten: ‚Wir waren immer schon nachhaltig‘. Warum als Versicherer nicht aus der „Regulierungsnot“ eine Tugend machen? Hieraus können Chancen erwachsen. Banken und Fondsgesellschaften haben es z.T. bereits vorgemacht. Für den Fondsbereich hat das FNG bspw. mit Hilfe eines eigenen Analysetools Übersichten über nachhaltige Fonds erstellt, ebenso das Sustainable Business Institute mit seiner Datenbank und dem Fondsnavigator.
TP: Es geht darum, neue Geschäftsmodelle zu erfinden und Transformation durch Innovation voranzubringen. Es geht auch darum, durch innovative Produkte Marktlücken zu erschließen, ökologische und ökonomische Nachhaltigkeit zu verbinden und neue Ertragsquellen zu erschließen. Eine wachsende Anzahl von Studien belegt, dass – je nach Produktkategorie und zugegebenermaßen mit einer recht breiten Streuung – der Markt für Finanzdienstleistungen im Durchschnitt erst im einstelligen, evtl. niedrig-zweistelligen prozentualen Bereich erschlossen ist. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass sich hier aufgrund der ungedeckten Nachfrage Wachstumspotenziale ergeben. Versicherer sollten stärker chancenorientiert denken.
AMC: Was haben Sie in bzw. mit Ihrem Forschungsprojekt „NATIVE“, das ja die Versicherer in den Fokus stellt, vor? JRC: NATIVE steht für die Entwicklung eines Nachhaltigkeits-Indikatoren-Systems für die Versicherungsbranche als Instrument zur Bewertung und Messung der Nachhaltigkeits-, Klimaschutz- und Klimaanpassungsleistungen. Unser Ziel ist es zu erfassen, wie „nachhaltig“ Sachversicherungen aktuell schon sind.
Das NATIVE-Projekt hat das Ziel, Versicherer auf ihre Nachhaltigkeitsleistungen in den Bereichen Umwelt, Soziales und Governance zu vergleichen. Dabei wird ein besonderer Fokus auf die Bereiche Beratung, Produkte, Kapitalanlagen & Schaden gelegt. Unsere Bewertung von Versicherern im Komposit-Bereich erfolgt u.a. auf Grundlage von CSR-Berichten, den nachhaltigen Produktangeboten der Versicherungen und einer umfassenden Anzahl an Nachhaltigkeits-Indikatoren. So wollen wir einerseits Verbrauchern und Vermittlern Möglichkeiten bieten, sich zu informieren, aber auch den Versicherern einen Benchmark und Einblicke in vielleicht noch blinde Flecke geben.
AMC: Was braucht ein Verbraucher Ihrer Einschätzung nach, um einen „nachhaltigen Versicherer“ untrüglich erkennen und vertrauen zu können? Und anders gefragt: Was muss ein Versicherer tun, um als „ernsthaft nachhaltig“ (an-)erkannt zu werden? JRC: Wichtig ist, dass Nachhaltigkeit in die Unternehmenswerte und -kultur einfließt, also sozusagen zum ethischen Fundament wird. Über die Nachhaltigkeitsstrategie sollte sich dieses in alle Teilbereiche des Unternehmens durchziehen. Verbraucher können sich also insbesondere an der Transparenz eines Unternehmens orientieren. Transparenz bedeutet dabei nicht zwingend eine perfekte Hochglanz-Broschüre oder ein entsprechender Internet-Auftritt, sondern vielmehr offen und ehrlich die Dinge offenzulegen. Orientieren können sich Versicherer bspw. an unterschiedlichen in der GABV zusammengeschlossenen Banken, die in Geschäfts- und Nachhaltigkeitsberichten sowie z.T. sogar auf ihren Homepages sehr transparent berichten. Auch geht es aus meiner Sicht darum zu zeigen, wo man sich erst auf den Weg zu Nachhaltigkeit gemacht hat und offen mit Kontroversen umzugehen.
Ein Siegel o.ä., wie ja bereits bei Nachhaltigen Investments vorhanden, gibt es hierfür noch nicht. Zukünftig können Verbraucher sich aber auch dank NATIVE gemäß ihrer eigenen Nachhaltigkeitsvorstellungen über die Versicherer informieren.
AMC: Wie sieht Ihre Vision, von einer nachhaltigeren Wirtschaft – sagen wir in zehn Jahren – aus? TP: Im Sinne der Generationengerechtigkeit hoffe ich, dass wir bis dahin in Deutschland bei der Transformation in Richtung sozial-ökologische Marktwirtschaft große Fortschritte nach vorne gemacht haben werden, und dass es mit Hilfe verbindlicher internationaler Vereinbarungen (z.B. einer ambitionierten, einheitlichen CO2-Bepreisung) gelungen ist, die Erderwärmung auf maximal 1,5 Grad zu begrenzen.
Unsere Interviewpartner
Prof. Dr. Tobias Popovic ist seit 2009 als Professor für Corporate & Sustainable Finance an der Hochschule für Technik (HFT) Stuttgart tätig. Seit 2010 ist er Ethikbeauftragter und von 2010 bis 2017 war er ebenfalls Nachhaltigkeitsbeauftragter der Hochschule. Ebenfalls ist er Co-Leiter des Zentrums für Nachhaltiges Wirtschaften und Management (ZNWM). Sustainable Finance ist seit Beginn seiner Hochschultätigkeit sein Hauptforschungsthema.
Jessica Reichard-Chahine ist akademische Mitarbeiterin der HFT Stuttgart am Zentrum für Nachhaltiges Wirtschaften und Management (ZNWM). Sie promoviert am Soziologischen Forschungsinstitut Göttingen zum Einfluss nachhaltiger Fonds auf produzierende Unternehmen. Zudem ist sie seit rund zehn Jahren in verschiedenen Positionen in Versicherungskonzernen, u.a. als Leiterin der Produktentwicklung, tätig.